Impulspapier zur Erweiterung der Jahresgespräche mit Mitarbeitenden um den Faktor Befristung
Im universitären Arbeitsalltag werden regelmäßig Gespräche geführt, um Informationen weiterzugeben, Arbeitspensen zu besprechen, Aufgaben zu verteilen oder sich ganz allgemein auszutauschen. Warum führen Mitarbeitende mit Vorgesetzten noch ein zusätzliches, jährliches Gespräch? Das sogenannte Jahresgespräch soll die Chance bieten, über fachliche und administrative Fragen hinaus auch persönliche Wünsche, Erwartungen und Ziele im Hinblick auf die berufliche Laufbahn anzusprechen. Wie an den meisten Universitäten wird es auch an der JGU Mainz bereits allen Mitarbeitenden empfohlen. Ein entsprechender Leitfaden steht hier zur Verfügung – darin werden die Themenbereiche „Arbeitsaufgaben und Arbeitsumfeld“, „Zusammenarbeit und Führung“ sowie „Perspektive und Entwicklungsmöglichkeiten“ als mögliche Inhalte vorgeschlagen. Im Regelfall dauert ein Jahresgespräch aktuell, wenn es stattfindet, zwischen 30 und 60 Minuten.
Wir als Initiative empfinden diesen Leitfaden und die bislang empfohlene Zielsetzung von Jahresgesprächen jedoch als unzureichend, insofern dort kein Raum vorgesehen ist für die Adressierung der eigentlichen Bedingung, unter der all diese Fragen, Wünsche, Erwartungen und Ziele überhaupt besprochen werden: nämlich die der Befristung von Arbeitsverträgen der allermeisten Mitarbeitenden an Universitäten. In diesem Impulspapier möchten wir unsere grundlegende Kritik am Jahresgespräch in seiner bisher etablierten Form darlegen. Demnächst steht hier ein kürzerer Leitfaden zum Download bereit, in dem wir konkrete Handhabungen zur Erweiterung der Jahresgespräche um den Faktor Befristung machen.
Problemskizze:
Das Problem mit Befristung, ihrer strukturellen Unaussprechlichkeit und fehlender Transparenz
In ihrer aktuell meist üblichen, eher schematischen Form erscheinen uns sowohl zeitlicher Umfang als auch inhaltliche Ausrichtung der Gespräche in Anbetracht von rund 90 % Arbeitsverhältnissen mit Befristung an deutschen Universitäten dysfunktional und nur teilweise hilfreich. Die Dysfunktionalität ist beidseitig: Für Mitarbeitende kommen diese Gespräche oft zu früh bzw. zum falschen Zeitpunkt – etwa, wenn Sie gerade erst eine Stelle angetreten haben, oder kurz davor sind, sie zu beenden. Für Professor:innen kann es frustrierend sein, mit temporären Mitarbeitenden über persönliche und berufliche Zielvereinbarungen zu sprechen, die angesichts kurzer Anstellungslaufzeiten häufig theoretisch bleiben. Manchmal werden die Gespräche von Arbeitgeber:innen und -nehmer:innen zudem für andere Absprachen, etwa für organisatorische Absprachen zur Institutsarbeit genutzt. Jahresgespräche laufen daher Gefahr, einfach als abzuarbeitender Termin angesehen zu werden.
Gleichzeitig reproduziert sich das immer noch vorherrschende Lehrstuhl-/Professor:innen-Modell unter dem seit 2007 geltenden Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) durch die Befristung des überwiegenden Anteils der universitären Mitarbeitenden. D. h. Lehrstuhlinhaber:innen/Professor:innen sind sich unausweichlich – schon über die Verhandlung von ‚Ausstattungs‘-Stellen nach der Berufung – der Befristung mehr oder weniger aller ihrer Mitarbeitenden bewusst. Entsprechend der diskursiven Hierarchie und unmittelbaren existentiellen Abhängigkeit ist es für die Befristeten selbst aber häufig schwierig, proaktiv die eigenen Sorgen und Unsicherheiten gegenüber der/dem Vorgesetzten anzusprechen oder gar das Jahresgespräch in diese Richtung zu steuern.
Das Ziel dieses Impulspapiers
Wir möchten mit diesem Impulspapier deshalb anregen, das Verständnis dieser Jahresgespräche grundlegend zu öffnen und mit mehr kommunikativem Sinn und solidarischem Geist zwischen Statusgruppen zu füllen. Wir erachten es nicht nur als wünschenswert, sondern angesichts rezenter politischer Angriffe auf Universitäten (insbesondere auf Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften) auch als nötig, einen Raum zu schaffen, in dem Mitarbeitende mit Vorgesetzten (in unserem Fall Lehrstuhl-Inhaber:innen/Professor:innen) gemeinsam die prekären Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft buchstäblich ‚zur Sprache bringen‘ können. Ganz konkret bedeutet das auch, die in diesen Verhältnissen vorherrschenden Tabus offen thematisieren und miteinander sukzessive überwinden zu können.
Es muss das Ziel sein, die für die Mitarbeitenden existentielle und für die Institute/Arbeitsbereiche lähmende Problematik der Befristung selbstverständlich in Jahresgespräche aufzunehmen, wenn nicht zu deren Grundlage zu machen. Wir empfehlen zudem nachdrücklich, die Gespräche mit allen Universitätsmitarbeitenden – auch studentischem und administrativem Personal – zu führen, um in allen Bereichen der universitären Zusammenarbeit die unmittelbaren Konsequenzen von Befristungsverhältnissen offenzulegen.
Wie wird das Thema Befristung konstruktiver Baustein des Jahresgesprächs?
Die folgenden konkreten Formen scheinen uns für eine Erweiterung/Neuausrichtung des Gesprächs besonders geeignet:
- Planung der Stellenlaufzeit mit der inhaltlichen Entwicklung des Arbeitsbereichs/Fachs/Instituts
Mitarbeitende und Vorgesetzte sollten das Gespräch gemeinsam im Kampf für entfristete Arbeitsverhältnisse als Möglichkeit einer jährlichen Intervention – einer Unterbrechung des Arbeitsalltags – ansehen. Sie können so miteinander über kurz- und langfristige künftige Aufgaben am Institut, Forschungsvorhaben und gemeinsame inhaltliche Ziele sprechen. Welche Rolle hat der:die Mitarbeitende im jeweiligen Fach, Arbeitsbereich und Institut? Welche Aufgaben werden entstehen, die absehbar Bearbeitung verlangen? Wo liegen fruchtbare inhaltliche Gemeinsamkeiten zwischen beiden Parteien? Lassen sich die Pläne mit den Befristungsverhältnissen vereinbaren – und wenn nein, wie kann eine langfristige Zusammenarbeit sichergestellt werden? Der Fokus der Zusammenarbeit wird durch diese Fragen von der Abhängigkeit der Mitarbeitendenstelle von Forschungsgeldern/Finanzierungsfristen wieder stärker auf gemeinsame inhaltliche Ziele gelenkt. Vorgesetzte sehen sich so dazu aufgefordert, ihre Mitarbeitenden nicht als vorübergehende Arbeitskräfte einzuplanen, sondern als vollwertige und langfristige Beteiligte an der Entwicklung ihrer inhaltlichen Ziele zu begreifen.
- Geteiltes Wissen über Stellenmodelle und deren Adaptierbarkeit
Das Finanzierungsmodell der jeweiligen Stelle und seine Konditionierungen sollten im Rahmen des Gesprächs transparent gemacht werden. Wird die Stelle z. B. durch Landesmittel, Zukunftspakt oder Drittmittel finanziert? Mitarbeitende müssen wissen, wie lange ihre Stelle vorläufig gesichert ist und ob später andere Finanzierungsoptionen möglich sind. Vorgesetzte sollten Mitarbeitende in diesem Zuge auch prinzipiell über Laufzeiten von Forschungsgeldern, Strukturen von Arbeitsbereichen und Finanzierungspläne der Universität informieren und die Stelle im Verhältnis zu diesen perspektivisch ausrichten. Dabei sollten Karenz-Optionen (z. B. Elternzeit, Vertretungen, Deputatskompensationen usw.) und individuelle Lebensplanungen auf der einen sowie Anforderungsprofile für eine mögliche künftige universitäre oder außeruniversitäre Laufbahn auf der anderen Seite im Blick behalten werden. So lassen sich beidseitig vorschnelle Urteile über vermeintliche universitäre Normen und Anforderungen entkräften, wie etwa die falsche Grundannahme, dass Forschungsqualität von hoher räumlicher Flexibilität profitiert oder dass sich die:der Mitarbeitende mit dem bestehenden System bereits arrangiert und finanziell gegen Arbeitslosigkeit abgesichert hat. Es gilt dabei besonders zu berücksichtigen, dass eine eventuelle standort- oder statusgruppentechnisch differente Zielsetzung der Mitarbeitenden (Professur, anderer Wohnort, Drittmittelstelle usw.) kein Grund gegen deren Entfristung darstellt. Im Gegenteil ermöglichen Entfristungen prinzipiell erst abgesicherte Rahmenbedingungen, unter denen berufliche Weiterentwicklungen geplant und eruiert werden können – in vielen anderen Bereichen (im öffentlichen Dienst) sind sie der Normalfall.
- Trennen von Leistungsbeurteilung und struktureller Situation
Weil die eingeschriebene Prekarität der eigenen Stelle häufig als nicht adressierbar empfunden wird, entsteht für Befristete eine Undurchsichtigkeit nicht nur der eigenen Planbarkeit, sondern auch der Selbstwahrnehmung. Deshalb sollte im Jahresgespräch klar zwischen individuellen Absprachen zu Un/Zufriedenheiten mit Arbeitsleistung und strukturellen Rahmenbedingungen der jeweiligen Stelle unterschieden werden. Missverständnisse und temporäre Konflikte sind in Arbeitszusammenhängen normal – sie sollten schon im laufenden Arbeitsbetrieb adressiert und gemeinsam in Lösungen überführt werden. Durch monolithische Abhängigkeiten im Lehrstuhlsystem spitzt sich jedoch das Szenario zu, dass Befristete aus wahrgenommener/unterstellter unzureichender ‚Arbeitsleistung‘ sofortige existenzielle Sorgen um den Fortbestand der eigenen Stelle ableiten, was nicht selten mit dem Hinterfragen des eigenen Arbeitswertes einhergeht. Zu diesen generellen und tiefgehenden Unsicherheiten addieren sich zudem häufig strukturelle Ungleichbehandlungen, etwa für Menschen mit Migrationshintergrund und anderer Muttersprache, mit Behinderung und Gesundheit, akademischem Alter sowie für FLINTA* und People of Color, die ohnehin, das ist statistisch belegt, heute nach wie vor schlechtere Chancen auf Arbeitsplätze in der Wissenschaft haben. Entfristungen und Un/Zufriedenheiten in der Zusammenarbeit mit der/dem Vorgesetzten hängen nicht unmittelbar zusammen. Erst auf einer gesicherten Stelle sind Mitarbeitende aber in der Lage, ihre Fähigkeiten wirklich mutig und kreativ einzusetzen. Erst dann können Verbesserungen von Konfliktsituationen sinnvoll adressiert werden. Systeme der Angst und zeitlichen Begrenzung hingegen schaffen unsichere Arbeitsbeziehungen und oberflächlichere Forschungszusammenhänge und schaden damit auch einer demokratischen und notwendig dissensoffenen Wissenschaft nachhaltig.
- Umgang mit unabwendbarer Befristung
Ist das Ende eines Vertrags trotz aller Bemühungen unabwendbar, sollte auch das Jahresgespräch angepasst werden. Mitarbeitende, deren Zukunft die Universität nicht sichern kann, sollten einschlägige und kompetente Beratung im Hinblick auf andere Finanzierungs-, Stellen- und Qualifikationsmodelle erhalten, sowie über Fortbildungsmöglichkeiten und verwandte Beschäftigungsbereiche informiert werden. Dem Eindruck, dass jenseits der universitären Laufbahn keine passenden Arbeitsumfelder existieren, sollte dabei unbedingt entgegengewirkt werden – im Gegenteil sollte es im Interesse der Universitäten liegen, mit qualifizierten Alumni weiter im Kontakt zu bleiben. Auch die aktuellen Aufgaben am Institut sollten auf das absehbare Auslaufen der Beschäftigung abgestimmt und deren Rahmenbedingungen im Jahresgespräch möglichst ein Jahr vor Ende des Vertrags besprochen werden, weil aufseiten der Mitarbeiter:innen ein zeitlicher und organisatorischer Mehraufwand für die Umorientierung entstehen wird. Daueraufgaben sollten ausgesetzt werden. Das Ziel sollte sein, Mitarbeitenden eine Berufsperspektive zu bieten, und langfristige Verantwortlichkeit nicht zu scheuen.
- Wissenschaftliches Arbeiten im Angesicht politischen Wandels
Der allgemeine Rahmen dessen, was man grundsätzlich in der Wissenschaft tun kann, welche Karrieren man realistisch verfolgen kann und wie, und ob, sich gewohnte Systeme unter Umständen oder gar akut verändern, sollte Folie des solidarischen Miteinanders an der Universität sein und auch die individuellen Jahresgespräche unterfüttern, selbst wenn sie eher als lokale und individualisierte Ereignisse stattfinden. Aktuelle Auswertungen der langjährigen Erfahrung mit föderalen Bildungsministerien und Regierungskoalitionen auf Bundesebene zeigen, dass seitens der Politik an einer grundsätzlichen Revision des legalisierten Diktats der Befristungen schlicht kein Interesse besteht. Mit der unausgesprochenen Festschreibung einer strukturellen Prekarität ist im Rahmen der Hochschulautonomie also die verstärkte Aufforderung an die einzelne Professur, das einzelne Institut und die individuell Prekarisierten verbunden, sich direkt zu positionieren und selbstbestimmt zu handeln. Gleichzeitig führen uns die verstärkten offenen Angriffe auf die Wissenschaftsfreiheit durch Regierungen weltweit vor Augen, dass Alternativen und Perspektiven einer weiterführenden Laufbahn besonders im internationalen Rahmen, aber auch in Deutschland, einer neuen politischen Prekarisierung ausgesetzt sind. Angesichts bereits empfindlich spürbarer finanzieller und inhaltlicher Beschränkungen wäre ein schlichtes Weitermachen realitätsfremd – und ist der Normalfall Befristung realitätsfremd. Die Jahresgespräche sollten daher auch konkrete Diskussionen im Hinblick auf realistische wissenschaftliche und politische Zukünfte beinhalten und sich wandelnde Anforderungen an statusübergreifende Solidarität in den Vordergrund rücken.
Wir als Initiative verstehen Jahresgespräche als eine der vielen Möglichkeiten, Universitätsmitarbeitende und Drittmittelbeschäftigte verschiedener Statusgruppen gemeinsam im Kampf für gute Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft zu solidarisieren, gegenseitige soziale und politische Verantwortlichkeiten wahrzunehmen und Allianzen zu bilden.